Mord im Armenhaus
Katharina Bursztyn
Frauen morden auch. Zwar weist die Tötungsstatistik eine klar geringere Zahl an Täterinnen nach und auch die gewählten Mittel sind andere als bei Tätern. Ein kleiner Einblick in einen Mord, der sich anno 1913 zugetragen haben soll, führt uns in eine fremde Lebenswelt.1
Anna Maria Fehr2 wurde 1851 geboren. Ihre Mutter verstarb früh und Bekannte zogen sie auf – an Unterstützung und wohl auch an Möglichkeiten ein geregeltes Leben zu führen, fehlte es. Bald wurde Anna, die ihr Leben lang ledig blieb, straffällig. Ob es die Armut war, die sie zu etlichen Diebstählen veranlasste, ist in den Akten nicht ersichtlich, ist aber anzunehmen.
Ab 1889 füllte sich ihr Strafregister mit Vergehen. Zwischen 1889 und 1917 sass sie wegen Diebstählen, «Unzucht» und Nichteinhaltung von Gemeindeausweisungen fast jährlich wochenlang im Gefängnis, Zuchthaus oder im Arbeitshaus. Während Gefängnis und Zuchthaus dem Freiheitsentzug dienten, waren Arbeitshäuser Teil des geschlossenen Fürsorgesystems und galten als Massnahme gegen künftige Vergehen. Das Anstaltswesen weist aber viele Überschneidungen und keine klaren Grenzen auf.3 Die vielen verschiedenen Massnahmen erlebte Anna allesamt, bis sie zu Beginn der 1910er Jahre in eine weitere Einrichtung – das sogenannte Armenhaus – verbracht wurde.
Im «Armenhaus» Rothenburg verrichtete sie fortan Zwangsarbeit. 1917 gab sie zu Protokoll, dass es ihr dort grundsätzlich gefalle. Das Essen (besonders das Gemüse) sei gut. Gleichzeitig sprach sie offen darüber, wie hart sie tagtäglich arbeiten muss und wie ihr diese Arbeit zusetzt. Zur Zeit dieses Protokolls war Anna bereits 65 Jahre alt. Der Schwerpunkt der Befragung lag aber nicht auf den schwierigen Lebensumständen im Armenhaus, sondern auf der Nacht vom 1. auf den 2. Mai 1913.
Bauernhof Hermolingen in Rothenburg, Armenhaus und später Bürgerheim. Undatierte Aufnahme, Sammlung Kurt Bieri, Rothenburg, aus: Alice Odermatt: Rothenburg; Geschichte und Geschichten, Band 2, S. 122 (2013).
Streit
Anna teilte ihr Zimmer mit mindestens zwei weiteren Frauen. Viele Frauen kamen in diesen Anstalten nicht nur physisch an ihre Grenzen, sondern sie litten unter den ihnen genommenen Rückzugsmöglichkeiten. Der Alltag war auch deshalb von Streitereien geprägt. Während einer Zänkerei im Jahr 1917 wurde Anna beschuldigt, vier Jahre zuvor ihre Zimmergenossin Martha umgebracht zu haben. Damals teilte sie das Zimmer mit Martha Amacher, mit Frau Zgraggen und wohl auch mit Frau Fellmann. Neben Anna wurden zwei weitere Frauen beschuldigt, Martha Amacher umgebracht zu haben, darunter Frau Zgraggen. Doch gegen Anna Fehr wog der Vorwurf am schwersten.
Vom Gerücht vernahmen auch die Anstaltsmitarbeiterinnen. Als sie Anna mit den Vorwürfen konfrontierten, habe sie «nach kurzem Leugnen» zugegeben, Martha Amacher getötet zu haben. Die Vorsteherin der Anstalt sah sich daraufhin veranlasst, ein Schreiben an den Amstatthalter und die Staatsanwaltschaft aufzusetzen und diese darüber zu informieren. Gleichzeitig hielt sie fest, dass sie von einer natürlichen Todesursache ausgegangen seien, weil die Tote bereits gegen 73 Jahre alt war und die Beschuldigte ebenfalls fortgeschrittenen Alters – ein Mord unter betagten Frauen schien wenig wahrscheinlich. Gleichzeitig wollte sie wohl auch ihre Anstalt vor dem Vorwurf schützen, man habe einen Mord nicht erkannt oder nicht gemeldet.
Transportbefehl, in: StaLu A 895/036.
Anna wurde in der Folge wegen der Anklage auf Mord in das Amtsgefängnis Hochdorf überführt und musste sich am 13. Dezember 1917 dem Verhör stellen: «Erzählt nun, was mit dieser Amacher Martha gegangen ist!», wurde Anna aufgefordert. Martha sei (um es gelinde auszudrücken) kein netter Mensch gewesen, mit allen hätte sie Streit gehabt und allen alle Schande gesagt. Ihre Zimmergenossin sei auch nachts mürrisch gewesen. Vor ihrem Tod sei sie einige Zeit krank gewesen und hätte doch die Zänkerei nicht sein gelassen. In der Nacht auf den 2. Mai 1913 gegen vier Uhr morgens habe Martha die Angeklagte Anna als «Hure», «Luder» und mit weiteren «erdenklichen Namen» beschimpft. Anna gab zu Protokoll, dass sie von der harten Arbeit sehr erschöpft gewesen sei und es nicht länger aushielt, nicht einmal in der Nacht zur Ruhe zu kommen – deshalb habe sie begonnen, Martha zu würgen und auf sie einzuschlagen. Während dem Angriff habe Martha sie weiter beschimpft.
«War die Martha Amacher nach dem Würgen gleich tot?» «Ja, aber, vorher hatte es noch unvernünftig gebrüllt und mir alle Schand gesagt.»
Anna beteuert, dass sie Martha nicht gewürgt hätte, wenn diese sie nicht so sehr beleidigt hätte und sie betont abermals, dass sie nach den strengen Arbeitstagen Ruhe brauche – sie hätte ihre Zimmergenossin nicht töten wollen. Beim Lesen der Protokolle ist der anhaltende Ärger und die Erschöpfung zu spüren. Unangenehm berührt beim Lesen auch die Kälte von Annas Aussage, dass Martha in dem Frühling wohl sowieso verstorben wäre.
Die Vorsteherin des Armenhauses, Schwester Wendolina Zimmermann4 wurde im Januar 1918 ebenfalls verhört. Sie bestätigte, dass Martha «kränklich und gebrechlich» war. Weiter gab sie zu Protokoll, dass die Ermordete «reizbar und zanksüchtig» gewesen sei. Die gleichen Worte hatte Anna in ihrer Aussage verwendet. Zwar hätte Anna früher ein Alkoholproblem gehabt, grundsätzlich sei sie aber «normal». Auch Frau Zgraggen, die dritte Zimmergenossin, beschrieb Schwester Wendolina – wohl in Abgrenzung zur Beschreibung Marthas – als «normal».
Frau Zgraggen, die von Anstaltsinsassinnen ebenfalls als Täterin bezichtigt worden war, wurde gleichentags befragt und beschuldigte Anna schwer. Sie berichtete von Streitigkeiten zwischen verschiedenen Frauen und Drohungen untereinander und gegen Martha Amacher. Besonders Anna habe über «die Amacher» gesagt, dass sie diese eines Tages erwürgen würde. Am Vorabend der Mordnacht hätten Anna und Martha eine Zänkerei gehabt. Am Morgen nach der Mordnacht sei sie aufgestanden und Amacher als auch Fehr seien noch im Bett gewesen, sie hätte selbst nichts mitbekommen. Sie vermerkte zudem, dass Anna beim Feststellen des Todes über die Verstorbene Folgendes gesagt hätte: «es lachet ja jetzt no».
Mord
Alles sprach gegen die Angeklagte Anna Maria Fehr und sie gestand den Mord. Der Fall wurde sodann vom Amstatthalteramt der Staatsanwaltschaft übermittelt und offiziell zu einem Kriminalfall erhoben. Fehr hatte vorerst in Haft zu verbleiben, doch bald fand sie sich im Kantonsspital wieder.
Eine Einschätzung vom Amtsarzt kurz vor Weihnachten 1917 hielt lediglich Stimmungsschwankungen fest, ansonsten entspräche ihre Gesundheit dem Alter. Grundsätzlich sei eine mangelhafte Erziehung festzustellen. Vergangene Alkoholprobleme, zeitweise Unterernährung und sexuelle Ausschweifungen hätten sie geprägt. Dass Anna wohl unter weiteren gesundheitlichen Problemen litt, zeigt sich daran, dass sie nur knapp einen Monat später verstarb. Daraufhin wurde die Untersuchung fallengelassen.
Die Untersuchung wird nach dem Tod Annas fallengelassen, in: StaLu A 895/036.
Was bleibt
Eine Anstalt – zwei tote Frauen. Eine Geschichte, die mich in ihren Bann zog. Doch solche Kriminalfälle bergen viel mehr als die Faszination für das Grauen. Aus den Akten erfährt man nur ansatzweise etwas über die Lebensrealität von unter Armut lebenden und/oder straffälligen Frauen Anfang des 20. Jahrhunderts. Akten geben uns vor allem Einblick in den damaligen behördlichen Umgang mit mittellosen Menschen. Über das Opfer erfährt man leider praktisch nichts. Weitere Recherchen wären dafür notwendig und bestimmt aufschlussreich. Die wenigen Unterlagen zeugen aber doch von harschen Bedingungen in diesen Unterbringungen, von Frustration und Niedergeschlagenheit. Die Faszination für das Grauen wich sodann der Faszination für die Aufarbeitung der unbegreiflichen und unwürdigen Zustände, in denen sich mittellose Menschen bis weit in das 20. Jahrhundert wiederfanden.
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Die Beschreibungen des Falles sowie Direktzitate aus Protokollen basieren auf den Akten StaLu A 895/036.
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Die Namen der Beschuldigten sind anonymisiert.
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Wolfensberger, Rolf: Anstaltswesen, in: e‑HLS, URL: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016582/2010–11–11/ [Stand 03.08.2022].
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Schwester Wendolina Zimmermann war höchstwahrscheinlich eine Ordensfrau aus dem Kloster Baldegg. Siehe hierzu: o.A.: Rothenburg: Geschichte und Geschichten, Band 2, Rothenburg 2013, S. 123.