Einblicke in 30 Jahre Vereinsleben: auf weitere 30 Jahre!
Angela Müller & Katharina Bursztyn
Rund 100’000 Vereine zählt die Schweiz. Die meisten sind dabei sportlich unterwegs. Und der Frauenstadtrundgang Luzern? Der Verein, 1992 gegründet, hat Bestand und feiert in diesem Jahr sein 30-jähriges Jubiläum – eine sportliche Leistung. Möglich machten es mehrere Generationenwechsel und der eine oder andere Richtungswechsel. Ein Verein verbindet grundsätzlich Gleichberechtigte, die regelmässig zusammenkommen. Wir tanzen allerdings nicht wie ein Gymnastikverein möglichst in Reih und Glied synchron zu einer durchorchestrierten Choreografie. Wir sind ein Verein von rund 20 Frauen mit unterschiedlichen Hintergründen, die grössere und kleinere Beiträge (ehrenamtlich) leisten. Viele von uns sind Historikerinnen und Lehrerinnen oder befinden sich auf bestem Weg dazu. Und wir würden behaupten, dass all jene, die selbst in einem Verein aktiv sind, sie bestens kennen: Die herausfordernde Balance zwischen spassiger Unverbindlichkeit und hartnäckiger Verpflichtung, die nötig ist, um gemeinsame Ideen realisieren zu können. Bekannt ist den meisten sicherlich auch das allgemeine Köpfe-Einziehen, wenn es darum geht, das Sitzungsprotokoll zu übernehmen, aber auch das Sprudeln von Ideen, wenn all’ diese Köpfe gemeinsam neue Projekte entwickeln.1
Frauenstadtrundgäne bespielen den urbanen Raum
Die Schweizer Frauenstadtrundgänge entstanden in den 1990er Jahren nach deutschem Vorbild. Von Akademikerinnen gegründet, setzten sich die Vereine zum Ziel, Frauen‑, Lokal- und Alltagsgeschichte zu verbinden.2 Touren durch die Städte mit neuen Perspektiven jenseits gängiger touristischer Narrative sollten entstehen. In Luzern gründeten 1992 fünf Historikerinnen und Geschichtsstudentinnen den Frauenstadtrundgang. In den ersten Jahren erarbeitete der Verein Rundgänge und lancierte parallel dazu eine eigene Publikationsreihe. Als erstes ging’s auf Reisen unter dem Titel «Reise-Zeiten».
Plakat «Reise-Zeiten» 1993, Verein Frauenstadtrundgang Luzern (Vereinsarchiv).
Und die Rundgänge werden ein Erfolg. Im Jahr 1995 nehmen 600 Besucher:innen an den Führungen teil. Anlässlich von 150 Jahren Bundesstaat erarbeitet der Verein 1998 den Rundgang «Mit Pfeffer und Pfiff» und einen ersten Landrundgang in Meggen: «Aus frauengeschichtlicher Perspektive entsteht ein faszinierender, anderer Blick auf die Entstehungszeit der modernen Schweiz», heisst es im Flyer zur gleichnamigen Publikation. Das Jahr bricht Rekorde: Über 1600 Interessierte begeben sich auf die Spuren der Geschichte Luzerner Frauen.
Just zum Millennium ein nächster Meilenstein: Frauenstadtrundgang Luzern goes digital! Die eigene Webseite des Frauenstadtrundgangs geht online. Die Vereinsarbeit und auch Kommunikation werden immer digitaler, doch bis heute sind die Rundgänge mit viel Ungehörtem durch die Stadt Luzern das Kernstück des Vereins.
Neue Geschichten schaffen
Deren Erarbeitung wird zwar durch die neuen Technologien erleichtert, bleibt aber intensiv. Da es sich meist um noch unbekannte Geschichten handelt, gleicht das Recherchieren Detektivinnenarbeit. Es folgen unzählige verschiedene Textversionen, das Knobeln über Kürze und Länge der Beiträge und das Zusammenfügen und Weglassen liebgewonnener Geschichten. Schliesslich steckt hinter dem Rundgang seit einigen Jahren auch die Arbeit einer Regisseurin, die den Beiträgen den letzten Schliff verpasst. Die Rundgänge werden so erst zu dem was sie heute sind: geschickt inszenierte und erlebbare Erzählungen. In solchen Projekten lassen sich die verschiedenen Stärken der Mitglieder besonders einsetzen und gegenseitig bereichern. In den verschiedenen Formationen probieren wir durch so eingebrachte Ideen neue Stile für die Rundgänge aus. Im 2021 gestarteten Rundgang «FörSIE. Auf dem Weg zur politischen Mitbestimmung» sind wir etwa mit Beamer unterwegs und projizieren Historisches an Häuserwände.
Anderes erfolgt auf Papier, wie der Briefversand, was jeweils arbeitssame Stunden für die Vereinsfrauen bedeutet. Die Geselligkeit ist im Verein zugegebenermassen in den letzten Jahren etwas zu kurz gekommen und so wurde 2020 der FörSIE-Träff lanciert und wir tauschen uns nun regelmässig bei Bier, Glühwein oder Kaffee aus. Vom Wunsch nach mehr Geselligkeit zeugt auch das Kartenspiel «Goht’s no?», das in den letzten zwei Jahren entwickelt worden ist. Ziel des Spiels ist, gemeinsam über Ungleichheiten in der Schweizer Geschichte zu diskutieren. Ein Spiel zum Argumentieren, das einem mal ein Lachen auf die Lippen zaubert und mal vor Empörung die Faust auf den Tisch hauen lässt.
Und bereits steht der neuste Rundgang in den Startlöchern. Ab Frühling 2022 führen wir die Besuchenden durch die (Lebens-)Geschichte einer Brandstifterin. Im kommenden Herbst wollen wir dann gemeinsam auf 30 Jahre Frauenstadtrundgang Luzern anstossen – die Gläser werden klirren, die schmackhaften Häppli bestimmt eifrig verschlungen und Gespräche geführt mit Freundinnen, die man allenfalls schon eine Weile nicht mehr gesehen hat. Eine kleine, aber umsetzungsstarke Gruppe, so könnte der Frauenstadtrundgang beschrieben werden. Trotzdem kämpfen auch wir mit Problemen, neue Mitglieder zu gewinnen und die arbeitsintensiven Ämter zu besetzen.
Wie weiter?
Am verregneten 5. Juni 2021 traf sich alsdann ein Teil des Vereins zur Besprechung der Vereinslage und der Weiterarbeit als solcher, oder wie es in der ankündigenden Mail hiess: «um über die Zukunft, den Aufbau und die Arbeitsteilung unseres Vereins nachzudenken.» Worin wir uns schnell einig waren, ist, dass unsere Aufarbeitungen und die Vermittlung von Frauen- und Gendergeschichte noch lange nicht überflüssig geworden sind, es uns weiterhin braucht und unsere Rundgänge Anklang finden. Gleichzeitig mussten wir uns bewusst machen, dass sich einige sehr stark engagieren und andere dies nicht tun (können). Sollten arbeitsintensive Ämter neu besetzt werden müssen, drohte eine Lücke zu entstehen. Ebenfalls Konsens war, dass die Bereitschaft mitzumachen nicht abgenommen hatte, aber sich zu verändern schien. Einzelne Projekte sind durchaus beliebt, kleinere Aufgaben werden gerne übernommen, aber längerfristige Horizonte sind schwierig anzudenken.
Als Historikerinnen wissen wir, dass Vereine Abbilder der Gesellschaft sind – Bedürfnisse und Umstände verändern sich, Möglichkeiten haben zugenommen, die Anforderungen an Frauen haben sich gewandelt. Das ist völlig in Ordnung, nur müssen wir als Verein damit umzugehen wissen.
Viele Fragen und Ideen wurden diskutiert. Sollte etwa eine Geschäftsstelle eingerichtet werden, um die administrative Vereinsarbeit (die nur ungerne übernommen wird) für die Mitglieder möglichst gering zu halten? Auch finanzielle Überlegungen spielten bei dieser Diskussion mit hinein, die auch ein neues Selbstverständnis als Verein bedingen würden. Die Tage und Nächte seit dem «Zukunftsplanungstreffen» vergingen, in denen sich die verschiedenen Ideen setzen und entwickeln konnten. Und: Es war eine Lösung gefunden.
Kollektiv arbeiten
Wir organisieren uns neu mit einem Kollektivpräsidium, das einen Vorsitz hat (der sodann auch gerne übernommen wurde). Die Inhalte der verschiedenen Ämter wurden evaluiert und kleinere Aufgaben an Vereinsmitglieder abgegeben – mit dieser Strategie können wir die Lasten besser untereinander verteilen.
Wir sind ein kleines Kollektiv, 1992 gegründet und werden 30. Als Kind stellt man sich vielleicht vor, mit 30 das Erwachsenenalter längst erreicht und somit die Weichen des Lebens gelegt zu haben. Aber es ist ein schwieriges, wenn auch schönes Alter: viele Entscheidungen und Orientierungsfragen stehen doch noch an und wir haben es gewagt, uns diesen zu stellen. Die nächsten Jahre werden anders und die nächsten 30 sowieso. Wo stehen wir dann?
Zukunft
Werden wir 2053, wie bis anhin, klassische Rundgänge durch Luzern führen? Die Strassen werden bestimmt dichter bebaut sein, mehr Grün wird diese hoffentlich zieren und die Digitalisierung unsere Lebensbereiche stärker erfasst haben. Werden dann noch zwei Rundgängerinnen vor Ihnen stehen oder ziehen Sie sich zuhause eine Brille an und gehen virtuell über die Pflastersteine der Altstadt mit uns? Vielleicht werden es anstatt Requisiten neue Erfindungen ermöglichen, Sie das Nass der Reuss spüren zu lassen, die Düfte der Industrialisierung in der Nase zu haben und den Tummel mittelalterlicher Märkte hautnah mitzuerleben.
Doch die grosse Frage lautet: Was werden wir Ihnen erzählen? Vielleicht erübrigt sich der spezifische Blick der Geschlechtergeschichte bis dann. 1992 wurde der Frauenstadtrundgang aus einer Dringlichkeit geboren und seither entsteht wichtige und relevante Geschichte, die Frauen miteinbezieht, ins Zentrum stellt und ihnen den gebührenden Platz bietet. Es mag sein, dass dieser Miteinbezug bis in die Mitte des Jahrhunderts selbstverständlich wird oder die Kategorien der Geschlechter aus Diskussionen verschwinden. Schön wär’s natürlich! Der Verein wird sich dann abermals neuorientieren müssen und seine Struktur überdenken.
Vielleicht bietet die Zukunft wieder mehr Zeit und Raum für Engagements, die zum öffentlichen Leben beitragen – die Arbeitszeiten werden kürzer, familienfreundlichere Strukturen erlauben mehr Erholungszeit und das Wohlergehen der Gesellschaft steht über Profitmaximierung. Eines ist gewiss: Frauen werden nach wie vor Geschichte schreiben.
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Die Ämter Kassiers oder Buchhaltung sind laut Studien schwer zu besetzen, weil sie Verantwortung abverlangen, vgl. Interview mit Schumacher, Beatrice: «Vereine sind kein Auslaufmodell», in: Neue Luzerner Zeitung, 14.07.2018.
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Bachmann, Eva: Von Nonnen, Hexen, Dienstmädchen und Patrizierinnen. Frauenstadtrundgänge in der Schweiz, in: Traverse 22 (2015), S. 7–16, hier S. 7.