Aufbruch in die Tradition: Von «Golden Twenties», silbernen Füchsen und rostigen Alltagserfahrungen
Barbara Steiner
In den vom Krieg geprägten Grossstädten Europas der 1920er-Jahre tritt ein neuer Frauentyp in Erscheinung, namentlich die «Neue Frau». Sie ist selbstbestimmt und unabhängig und mit ihrem modischen Outfit – Hängekleid, Chapeau melon, Zigarette und zuweilen Monokel und Krawatte – äusserst augenfällig. Ihre Sichtbarkeit und ihr eigenständiges Auftreten bestärken die Hoffnung auf eine baldige Realisation weiblicher Emanzipation. Als ihr beliebtes Accessoire wird der modische Fuchspelz zum Symbol einer mondänen Lebenshaltung und zur Plattform vielerlei Hoffnungen, Wünsche und Ambitionen. Wir begeben uns auf eine Spurensuche rund um den Fuchspelz von Sybil Rosengart, der Mutter der bald 90-jährigen Luzerner Kunstsammlerin Angela Rosengart.
Frau wie Mann? – die «Neue Frau»
In einer Sommerausgabe der Zürcher Illustrierten aus dem Jahre 1930 findet sich die Fotografie einer amazonenhaft schlanken Dame in einem sehr gerade geschnittenen Kleid, mit einer Perlenkette um den Hals, Perlen am Ohr und mit einer ballonartigen Mütze auf dem Kopf.1 Ihre Lippen sind tiefrot und die Zähne leuchtend weiss, die Nägel lackiert. Der leicht laszive Blick aus den scharf konturierten Augen schweift irgendwohin in die Ferne. So präsentiert sich ab den 1920er-Jahren die «Neue Frau» im «Flapper-Look», die «Garçonne» – die «bübische» Dame ist der Prototyp eines neuen Entwurfs von Weiblichkeit. Mit Ikonen wie Marlene Dietrich oder Coco Chanel geht dieser Typ ins kollektive Gedächtnis ein.
In der Mode der 1920er-Jahre findet das Konzept der «Neuen Frau» direkten Übergang in textile Form. So spiegelt sich im zeitgemäss sachlich-androgynen Kleidungsstil das Spiel mit den Geschlechterrollen: Zum einen verdeckt die strenge Linienführung bewusst die weiblichen Züge, zum anderen integriert er explizit männliche Accessoires wie Zigarette, Monokel, Krawatte oder die «Melone».2 Die hohe Präsenz in den illustrierten Zeitschriften treibt ihre Popularität voran: Die «Neue Frau» erscheint als greifbares, «in absehbarer Zukunft erreichbares Nahziel».3
Bitte mit Pelz
Die «Neue Frau» trägt Pelz. Gemäss der Kulturjournalistin Vanessa Loewel ist die «Bindung von Mode an Lebens- und Verhaltensweisen ihrer Trägerin» in den Zwanzigerjahren besonders ausgeprägt: Die Mode transportiert eine Lebenshaltung und strahlt diese – gewissermassen im Objekt Pelz verstärkt – nach aussen.4 Die Zeitschrift Das Magazin prophezeit im Winter 1927/28 für die nahe Zukunft:
«Die grosse Mode wird der Fuchs, der Silberfuchs und andere Füchse werden getragen werden, und wenn ich meine Prophezeiung für die Herbstmode zusammenfassen soll, so muss ich sagen, sportliche Note, sportliches Kostüm, garniert mit bunten, vielfarbigen Ketten, sportliche Linie und überall dominiert der Fuchs.»5
Das haarige Kleidungsstück schmückte gewöhnlich höhere Gesellschaftsschichten. Als Emblem auf den Schultern der «Neuen Frau» steht es ikonografisch für deren Ambitionen: Er verbildlicht den Wunsch nach der Verbesserung der Lebensumstände, nach Anerkennung und nach Erhöhung des sozialen Status.
Mannequin mit Pelzstola – Pelz im Sommer (Detail), in: Zürcher Illustrierte, Band 6 (1930), Heft 27 6
Das eingangs umschriebene Mannequin trägt gleich selbst einen Fuchs über den Schultern – ein ganzes Tier mitsamt Kopf, Pfoten und Schwanz (Abb. 1). Eine solche Stola, gefertigt aus dem als besonders edel geltenden Silberfuchs, ist in der Sammlung des Historischen Museums in Luzern erhalten (Abb. 2). Welche Geschichte verbirgt sich dahinter?
Ansicht der Fuchsstola im Historischen Museum Luzern: Deutlich zu erkennen die Schliessvorrichtungen an den Vorderpfoten und am Rückenteil, um 1925, HMLU 13620 (Foto aufgenommen von Barbara Steiner im historischen Museum Luzern)
Jung, frisch, sportlich …?
«Jugend und lebendige Frische, ein trainierter Geist und Körper, das sind die charakteristischen Züge der Frau des zwanzigsten Jahrhunderts», umschreibt ein Artikel im Oktoberheft der Vogue von 1928 die moderne Frau.7 Die Luzerner Kunstsammlerin Angela Rosengart lacht laut auf: «Nein, so war meine Mutter nicht!» 8. Sybil Rosengart (1893–1968, Abbildung 3) war nicht emanzipiert, in keiner Weise.
Blicken wir zurück – München, Anfang der 1920er-Jahre: Friederike Dülberg trägt anstelle eines Bubikopfs das lange Haar im Nacken zu einem Knoten zusammengefasst. Sie ist scheu, kaum geschminkt und hat auch keine dauerhafte Anstellung, die sie ökonomisch unabhängig macht. Obwohl Friederike Dülbergs Erscheinung nicht dem modischen Ideal der Zeit entspricht, ist sie bestens bekannt in der Münchner Kunstszene. Betritt sie ein Tanzcafé, stimmt die Kapelle eines ihrer Lieblingsstücke an.9 Hauptsächlich habe wohl ihre Ausstrahlung ihre Mutter so beliebt gemacht, meint Angela Rosengart. Sie galt nämlich als ausgesprochene Schönheit. «Sie wusste sich mit sicherem Geschmack zu kleiden und zu bewegen, wahrte Distanz und zeigte tadellose Umgangsformen.»10
Musik und Tanz ist eine magische Verbindung in der soziablen Öffentlichkeit der «Golden Twenties». Den neuen Tänzen wie dem Charleston oder dem Shimmy huldigt die Dame von Welt genauso wie die Büroangestellte. In den Tempeln der Vergnügungskultur hat das angesagte Accessoire, der Pelz, seine Bühne. Er strahlt aus, was ihm angedichtet wird – er «wirkt». Er ist «Projektionsfläche» und Ausdrucksmedium: Im Pelz bin ich jung, unabhängig, am Puls der Zeit. Doch vermochte die neue Mode die Rolle der Frau um 1920 tatsächlich zu erneuern?
Grossstadtillusionen
Das befreiende Lebensgefühl der «Flapper»-Dame teilen zu Beginn des 20. Jahrhunderts viele (junge) Frauen in den Städten Europas und in Übersee: In der Hoffnung auf ein besseres Leben fügen sie sich ins bunte Treiben der Stadt ein und nehmen dabei ein armseliges Dasein in Kauf. Standardtyp ist die junge «Tippmamsell», die im Grossraumbüro von morgens bis abends Akten tippt, allein in einer kleinen Stadtwohnung lebt, und die verbleibenden finanziellen Mittel dazu nutzt, sich nach der neuesten Mode zu kleiden.11 Zwischen 1907 und 1925 verdreifacht sich die Zahl der weiblichen Büroangestellten. Die urbanen Vertreterinnen des «Neue Frau»-Typus sind omnipräsent. Ihre Existenz erscheint real. Doch der Schein trügt: Unterm Strich bleibt die weibliche Berufsarbeit unterbewertet und unterbezahlt und die rechtliche Situation grösstenteils ungesichert. Die traurig-sehnsüchtigen Empfindungen angesichts der ernüchternden Realität schildern die Gedichte der in Berlin als Büroangestellte tätigen, späteren Schriftstellerin Mascha Kaléko (1907–1975):
Interview mit mir selbst
(…)Beim Abgang sprach der Lehrer von den Nöten
Der Jugend und vom ethischen Niveau.
Es hieß, wir sollten jetzt ins Leben treten.
Ich aber leider trat nur ins Büro.
Acht Stunden bin ich dienstlich angestellt
Und tue eine schlechtbezahlte Pflicht.
Am Abend schreib ich manchmal ein Gedicht.
Mein Vater meint, das habe noch gefehlt.
Bei schönem Wetter reise ich ein Stück
Per Bleistift auf der bunten Länderkarte.
An stillen Regentagen aber warte
Ich manchmal auf das sogenannte Glück.12
Jugendliebe a. D.
(…)– Was ich so treibe …? Nicht sehr viel. Man trottet
So nach und nach sein kleines Pensum ab.
Und meine Träume hab ich eingemottet.
Ich wuchs heraus. Nun sind sie mir zu knapp … 13
Vorwärts in die Tradition
«Es ist schwer, das wissen alle Frauen, zu einem schönen Pelz zu kommen (…)», heisst es 1928 im Magazin Das Leben.14 Tatsächlich ist dies für viele vermeintlich «Neue Frauen» nur unter den «alten» und traditionellen Voraussetzungen möglich – also durch Heirat und damit durch die finanzielle Unterstützung eines Mannes. Mit dem Outfit der «Garçonne» bietet die Frau optisch zwar ein Pendant zum Anzug des Mannes, markiert die Ankunft in der industrialisierten Arbeitswelt und die «Durchsetzung der Modernere in der Frauenmode».15 Doch die Forderungen nach weiblicher Selbstständigkeit und ökonomischer Unabhängigkeit sind in der Realität der Zwanzigerjahre abseits der Parallelwelt der Mode weitgehend unerfüllt.16 Trotz enthusiastischer Zukunftsbeschwörung und dem allgemeinen Empfinden von Befreiung und Fortschritt vermag die Mode nicht über die Realität hinwegzutäuschen: Für viele Frauen ist es nicht möglich, sich aus den traditionellen Rollenmustern zu befreien – dies sowohl im häuslichen Bereich wie im Erwerbsleben. Die Frau definiert sich nach wie vor nahezu ausschliesslich über ihren Mann.17 Die «Neue Frau» verkörpert insofern eher «ein Ideal, ein Mythos der Journale, Zeitschriften und der Literatur.»18 Im autobiografisch gefärbten Roman Schicksale hinter Schreibmaschinen von Christa Anita Brück aus dem Jahre 1930 sehnt sich die resignierte Protagonistin gar nach der Erlösung vom «Sklavenjoch des Erwerbs»: «Im stillen hofft eine jede, früher oder später durch Heirat befreit zu werden.»19 Der Ausbruch in die Freiheit führt angesichts damaliger Verhältnisse letztlich zurück in die Tradition.
Offenkundig ist dies am Beispiel der ehemaligen Besitzerin der Pelzstola aus dem Historischen Museum Luzern: Nach der Scheidung von Ewald Dülberg kehrt Friederike Dülberg nach München zurück, wo sie sich Anfang 1924 mit Siegfried Rosengart verheiratet. Siegfried Rosengart, ebenfalls aus München stammend, führt zu dieser Zeit die Filiale der Münchner Galerie Thannhauser in Luzern, die er 1937 übernimmt. Sybil Rosengart (der Name Sybil soll ihr übrigens von Rainer Maria Rilke verliehen worden sein) ist jetzt Hausfrau. Ihr Ehemann ist stolz, seine Gattin mit schönen Geschenken erfreuen zu können; die Pelzstola war ein solches Geschenk, das vielleicht aus dem Lager des Zürcher Pelzhändlers Bernhard Mayer stammte, ein Kunde von Siegfried Rosengart.
Mode & Idee, Realität und Fiktion
Wie gerne sich Mode und (gesellschaftliche) Auffassungen zu einem wirkungsvollen Team verbünden, zeigt ein Artikel aus Das Magazin zum Ende der 1920er-Jahre:
«Denn die neue Mode bedeutet nicht nur das neue Kleid. Sie verlangt eine veränderte Haltung, eine andere Grazie, eine Kunst, sich zu bewegen, zu gehen, zu stehen, die über den Rahmen des Kleides, des Stoffes und des Schnittes hinausgeht. (…) und immer ist die Tracht der Ausdruck der Epoche gewesen.»20
Die Mode erschöpft sich nicht in Stoff und Form. Sie entfacht einen imaginären Schein, der ausstrahlt und vom Kollektiv entschlüsselt wird.21 Grundlage für diesen Schein ist der Diskurs. Nach dem französischen Philosophen Roland Barthes erhält ein Objekt seine Bedeutungen über die orale Tradition zugesprochen, beziehungsweise in den Modejournalen und Magazinen zugeschrieben.22 Die Mode entsteht gewissermassen in der «Rede».23 So schafft die Mode eine Haltung, transportiert ein «Credo», dem sich seine Träger:innen zugeneigt fühlen. Sie fungiert als (gesellschaftlich relevanter) Multiplikator eines zeitspezifischen Lebensgefühls.
Zweifelsohne: Eine neue Gesellschaft lässt sich wohl kaum anhand eines neuen Kleidungsstils erschaffen. Vielleicht hatte die modische Repräsentation der «Neuen Frau» in Form der «Garçonne» eine gewisse visionäre Vorbildfunktion, womöglich war sie ein Motivator für die Emanzipation – Doch trotz Unisex-Gewand und vermeintlich emanzipatorischem Aufwind: Im neuen Kleid steckt eine «alte Frau».
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Pelz im Sommer, in: Zürcher Illustrierte, Band 6 (1930), Heft 27; online.
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Rheinisches Industriemuseum (Hrsg.): Charlestonkleid und Tippmamsell, 31.
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Kessemeier, G.: Sportlich, sachlich, männlich, 28.
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Loewel, V.: Chapeau-melon und fume-cigarette, 156–157
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Jetzt – schon Herbstmode, in: Das Magazin, Band 4 (1927/ 1928), Heft 47, Juli; online zugänglich (Johanna Marbach).
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Pelz im Sommer, in: Zürcher Illustrierte, Band 6 (1930), Heft 27; online.
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Vogue vom 10. Oktober 1928, 7; zit. nach: Kessemeier, G.: Sportlich, sachlich, männlich, 43.
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Gemäss Angabe von Angela Rosengart im Gespräch mit der Autorin am 25. Juli 2018.
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Gemäss Angabe von Angela Rosengart im Gespräch mit der Autorin am 25. Juli 2018.
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Eichmann-Leutenegger, B. & Schulz, P.: Augen der Leidenschaft, 93.
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Die Mode der Zwanzigerjahre liess es zu, dasselbe Kleidungsstück sowohl als Tagesgewand wie auch – das Front- zum Rückenteil gekehrt – als Abendkleid zu tragen. Die modischen Pullover wurden teilweise selbst gestrickt.
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Kaléko, M.: Stenogrammheft. Gedichte aus der Welt der Grossstadt. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2007 (©1933 by Mascha Kaléko, © 1975 by Gisela Zoch-Wesphal), S. 13
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Kaléko, M.: Stenogrammheft. Gedichte aus der Welt der Grossstadt. Rowhlt Taschenbuch Verlag, Hamburg 2007 (©1933 by Mascha Kaléko, © 1975 by Gisela Zoch-Wesphal), S. 68
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Die Dame im Pelz, in: Das Leben, Band 6 (1928/ 29), Heft 6, Dezember; online.
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Rheinisches Industriemuseum (Hrsg.): Charlestonkleid und Tippmamsell, 23
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Kessemeier, G.: Sportlich, sachlich, männlich, 186.
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Kessemeier, G.: Sportlich, sachlich, männlich, 82.
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Gottfried, C.: Die Neue Frau und ihre Kleidung, in: Rheinisches Industriemuseums (Hrsg.): Charletonkleid und Tippmamsell, S. 19
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Brück, Ch. A.: Schicksale hinter Schreibmaschinen, 252; zit. nach: Brauerhoch, A.: Arbeit, Liebe, Kino. Working Girls, in: Jatho, G.: City Girls, 68.
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Jetzt – schon Herbstmode, in: Das Magazin, Band 4 (1927/ 28), Heft 47, Juli; online zugänglich (Ruth Goetz).
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Quadflieg, D.: Roland Barthes: Mythologie der Massenkultur und Argonaut der Semiologie, 17–29, hier 25–27.
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Barthes, R.: Mythen des Alltags, 251–253.
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Der Begriff «Rede» wurde entnommen von Roland Barthes: «Der Mythos ist eine Rede.»; siehe: Barthes, R.: Mythen des Alltags, 253.